EÜK : Straelen

Irmela Brender

Sag's deutsch!

Zwei Jahrzehnte Straelener Seminarerfahrungen

Straelener Seminare sind voller Überraschungen. Wie Übersetzer wissen, erklärt schon der Wortursprung häufig die Eigenart einer Sache: Seminar, aus dem Lateinischen, heißt ursprünglich Pflanzschule, also eine Nachwuchsförderung, in der die Launen der Natur dem Konzept zuweilen ein Schnippchen schlagen. (Wer denkt da nicht an die militärische Pflanzschule des württembergischen Herzogs Carl Eugen, in der neben anderen Friedrich Schiller mit Kasernendisziplin zu einem nützlichen Staatsdiener erzogen werden sollte - und heraus kam ein Dichter!)

Meine Erfahrungen mit Übersetzer- und Autorenseminaren reichen zurück bis 1982, und das Überraschungsmoment zieht sich wie ein roter Faden durch alle Begegnungen. Schon bei der Zusammensetzung der Teilnehmer gibt es Grund zum Staunen. Die beiden Seminarleiter haben einen Text ausgewählt, den die Bewerber nach kurzer Zeit übersetzt zurückschicken müssen, und nach diesen Arbeitsproben wird entschieden, welche zwölf Aspiranten mitmachen sollen.

Fast jeder neue Seminarleiter fürchtet, eine andere Auswahl zu treffen als sein Kollege - und stellt verblüfft fest, daß es nur wenige Meinungsverschiedenheiten gibt, denn die Kriterien sind klar: Das gestellte Problem soll erkannt werden, Sensibilität, Sprachgefühl und Kreativität müssen spürbar sein; wer eine perfekte Übersetzung einreicht, kommt ebenso wenig in Frage wie der gewiß anderweitig Begabte, der in Fremd- und Muttersprache offensichtlich Schwierigkeiten hat. Selbst bei sogenannten Grenzfällen gibt es oft Einigkeit.

Da möchte zum Beispiel eine Frau an einem Seminar für Übersetzer mit wenig Publikationserfahrung teilnehmen, muß aber nach ihrem Geburtsdatum bereits eine gestandene Seniorin sein. Doch sie hat in ihrer Übersetzung trotz einiger Anfängerfehler so gut die Sprachmelodie des Originals getroffen, hat gemerkt, worauf es ankommt, hat passende, dann wieder so originelle und diskussionswürdige Lösungen gefunden, daß beide Leiter sie ausnahmsweise dabei haben möchten. Die Ausnahme entpuppt sich dann als Mittzwanzigerin, die aus Zeitmangel ihre Mutter bat, das Bewerbungsformular auszufüllen, und die Mutter trug versehentlich ihr eigenes Geburtsdatum ein.

Meistens haben die zwölf Menschen mit unterschiedlichem Ausbildungs- und Berufshintergrund neben ihrem Weiterbildungswunsch überraschend viele Gemeinsamkeiten - bis zur Vorliebe für die Suppen, mit denen Ursula Brackmann die Erschöpften unter anderem stärkt, und für bestimmte Freizeitaktivitäten: In manchen Seminaren sind Spaziergänge und Radtouren am beliebtesten, in anderen hat fast jeder Teilnehmer Arbeit von zu Hause mitgebracht, in wieder anderen wird jede freie Minute von Gesprächen in Beschlag genommen. Bei einem Black-English-Seminar mit afro-amerikanischen Referenten waren die Abend- und Nachtstunden Hörerlebnissen vorbehalten, und die Tonbandaufzeichnungen berühmter Reden (von Martin Luther King, Malcolm X), die Comedy-Aufnahmen (mit Richard Pryor) und die worksongs gingen so ins Ohr, daß wir alle wohlig tief eintauchten ins fremde Sprachelement. Bei der Textarbeit kam dann der Kälteschock mit der Aufforderung: Sag's deutsch (aber nicht sächsisch oder bayrisch)!

Beim Vergleichen und Diskutieren von zwölf Übersetzungsvorschlägen für denselben Text kommt es zu unterschiedlichen Schwerpunkten, die sich aus den speziellen Interessen und Begabungen der Zwölf erklären: Mal verlangsamen Feiler und Polierer das Tempo, weil sie auf noch geschliffeneren Formulierungen bestehen, mal verlangen ökonomisch Orientierte unter Hinweis auf zu niedrige Seitenhonorare Eile und Konzentration; keineswegs nur junge Übersetzer wollen "die neue Sprache" auch beim älteren Text durchsetzen, dann wieder stehen Sprachschöpfungen, Idiome und Metaphern im Mittelpunkt.

Gerade Übersetzende mit wenig Erfahrung erwarten von einem Seminar Regeln, Tips, Rezepte, die ihnen die Arbeit erleichtern und das Ergebnis verbessern sollen. Und häufig sind sie davon überzeugt, daß es für jedes Problem nur eine einzige Lösung gibt. Diese Irrtümer verflüchtigen sich schon beim Vergleichen der Übersetzungsvarianten. Gewiß gibt es simple Ratschläge, z.B. daß für fremdsprachige Redensarten deutsche Entsprechungen zu finden sind, daß ein unmögliches Wortspiel durch ein gelungenes in Textnähe ersetzt werden kann, daß im Deutschen viele Männer einen Hut tragen und man von Körperteilen spricht, ohne immer das Possessivpronomen davorzusetzen ...

Aber die Textarbeit zeigt, daß es für so gut wie jeden fremdsprachigen Satz zwölf verschiedene Übersetzungsversionen gibt, die fast alle akzeptabel, fast alle auch angreifbar sind. Und die Argumente für und wider ergeben die fruchtbarsten Diskussionen, deren Ergebnisse dann wieder in die Klausurarbeit einfließen. Expertenreferate über Vertrags- und Urheberrecht, Steuerfragen, Hilfsmittel für Übersetzer, Recherchemöglichkeiten und Lektorat bringen weitere nützliche Hinweise für die Übersetzer, deren Namen man danach häufig auf den Titelseiten neuer Bücher zu lesen hofft - eine Erwartung, die sich bei einigen Erfolgskontrollen bis zu 80% bestätigt hat. Wenn der Teilnehmer eines Übersetzerseminars sich dann als Autor entpuppt, spricht das nur für die Überraschungsthese.

Treffen sich deutsche Übersetzer mit native speakers ihrer Fremdsprache, gibt es für beide Seiten Aufklärung über rätselhaft gebliebene Realia. Zu den bleibenden Erinnerungen an ein englisch-deutsches Seminar gehören für mich das Staunen der Engländer über die deutsche Teppichstange und das der Deutschen über das airing cabinet, den kleinen Raum in britischen Wohnungen, durch den die Heizungsrohre laufen und wo im Winter Kleidungsstücke nicht nur gelüftet, sondern auch angewärmt werden - Grund für die zufriedene Miene englischer Frühaufsteher an kalten Tagen. Wie aber werden übereinandergeschlagene Beine, auf Englisch crossed und hinterher wieder uncrossed legs, auf Deutsch in die Ausgangsposition gebracht?


Immer bleiben Fragen offen. Das gilt auch für Autorenseminare. In einem der ersten nach der Maueröffnung schrieb ein junger Autor aus Ostdeutschland einen Klausurtext über ein Dorf, das dem Braunkohleabbau zum Opfer fiel. Der bis dahin eher Unauffällige löste damit lange Gespräche aus. Hatte er das Thema für sein nächstes Jugendbuch gefunden? Würden sich Verlage dafür interessieren? Und würde das Wie (Stil, Aufbau, Sprache) tatsächlich so wichtig sein wie das Was (Thema)? Nur bei der letzten Frage war das Prophezeien einfach: ja. Denn wozu sonst ein Seminar?  

Aus:
Karin Heinz / Regina Peeters (Hrsg.):
Warum ich so oft nach Straelen fahre?: Gedanken, Erinnerungen und Erkenntnisse zum fünfundzwanzigsten Jahr des Europäischen Übersetzer-Kollegiums Nordrhein-Westfalen in Straelen e.V. - Straelen : Europäisches Übersetzer-Kollegium, 2003. - 135 S. : Ill.