EÜK : Straelen

Denis Scheck (Mitglied der Jury) - Grußwort

  

Sehr verehrte Preisträgerin Barbara Kleiner, meine Damen und Herrn,

"Wer durch sein Naturell oder durch eigenen Ratschluß sich selbst, den anderen und der ganzen Menschheit gegenüber in allem stets gerecht ist, der wird der unschuldigste, nützlichste und edelmütigste Mensch sein, der jemals auf Erden gelebt hat. Sein Leben wird eine einzige Wohltat sein für ihn und für alle, und er wird eine tiefe, ehrenvoller Spur in der Geschichte des Vaterlands hinterlassen."

Carlo Altoviti, der hochbetagte Erzähler von Ippolito Nievos "Bekenntnisse eines Italieners", rückt mit dieser Erkenntnis erst nach gut 1500 Seiten heraus. Selbstverständlich hat die Jury die Schlagkraft seines Arguments auf Anhieb überzeugt, weshalb sie nach sehr langer Sichtung der 74 eingereichten Übersetzungen und sehr kurzer Diskussion einmütig Barbara Kleiner als Preisträgerin erkor. Sie tat dies zum einen, weil in Barbara Kleiners Übersetzung so viele der Tonfälle, Erzählweisen und Sprachebenen der 73 anderen eingereichten Übersetzungen buchstäblich aufgehoben sind, zum anderen tat sie dies aber auch zweifellos in der Hoffnung, sich durch ein gerechtes Urteil in den Kreis der erwähnten unschuldigen, nützlichen und edelmütigen Menschen einzureihen.

Ob dies so ist, darüber mag die Nachwelt befinden, denn jeder Literaturpreis ist ein Beitrag zur Kanondebatte, also zu jener keineswegs nur als Gesellschaftsspiel amüsanten Frage, die da lautet: Was bleibt?

Ich kann nicht aus meiner Haut, mich erinnert diese Frage, was bleibt, immer an jenen furchtbaren Witz vom Besuch des Kasperletheaters im Altenheim, wo auf die Frage Kaspers "Seid Ihr alle da?" natürlich ein vielstimmig fisteliges "Ja!" im Publikum erschallt, was Kasper zur nüchternen Feststellung veranlaßt: "Aber nicht mehr lange!"

Keine Angst, ich frage Sie nun trotz unserer in letzter Zeit erfreulich angewachsenen statistischen Lebenserwartung heute Nachmittag in Straelen nicht: "Seid ihr alle da?" Jeder Leser weiß instinktiv die Antwort auf diese Frage, lesen wir doch schließlich nicht zuletzt, um aus unserer Haut zu kommen und zu erfahren, was in den Köpfen derjenigen vorging, die nicht mehr da sind, weil sie auf dem Friedhof liegen.

Was bleibt, und: warum wird nach Ansicht der Jury Barbara Kleiners Übersetzung von Ippolito Nievos "Bekanntnisse eines Italieners" bleiben: diese Frage aber verdient eine präzise Antwort.
Lassen Sie's mich in aller Kürze versuchen.

Vor etwa 4,6 Milliarden Jahren - dies klingt nun nicht so, aber Ehrenwort, ich spreche nur wenige Minuten, dochdoch - also, vor etwa 4,6 Milliarden Jahren entstand durch einen Schwerkraftkollaps einer interstellaren Gaswolke jener Stern, den wir in einem für unsere Spezies charakteristischen anthropozentrischen Anfall von Irrsinn "die" Sonne nennen. Diese Sonne, in Wahrheit vorsichtigen Schätzungen zufolge, eine von 70 Trilliarden Sonnen, das sind sieben mal 10 hoch 22 Sternen, von denen immerhin 6000 mit bloßem Auge am Nachthimmel erkennbar sind, also, diese Sonne oder vielmehr eben "die Sonne" wird sich von heute an gerechnet in eher 7 als 8 Milliarden Jahren zu einem Roten Riesen aufblähen, dann in weiteren eineinhalb Milliarden Jahren zu einem Weißen Zwerg ausbrennen, um schließlich als sogenannter Schwarzer Zwerg im optischen Spektralbereich
gänzlich zu erlöschen.

Wir Menschen werden diesen Weg vom Weißen zum Schwarzen Zwerg allerdings schwerlich noch registrieren, denn erstens ist von uns hier heute im Europäischen Übersetzer-Kollegium Straelen ob mit oder ohne Kasper ganz sicher keiner mehr da, ja es steht zu bezweifeln, ob bis dahin das EÜK noch da sein wird, und zweitens werden unsere Nachfahren, das EÜK, ja die Erde selbst bereits während der Expansion unserer lieben Sonne zum roten Riesen, das heißt schon in 7 Milliarden Jahren, vermutlich gänzlich vernichtet, übrigens zusammen mit Merkur und Venus, zumindest aber wird die gesamte Erdkruste, so die optimistischste aller Prognosen, zu einem einzigen Lava-Ozean aufgeschmolzen. Wann immer die Diskussion um die gute, die gelungene Übersetzung begonnen haben mag, viel deutet darauf hin, daß spätestens dies ihr Ende sein wird: heute in etwa 7 Milliarden Jahren wird das ganze traditore-tradutore-Geschwurbel zusammen mit dem Horazschen Denkmal dauerhafter als Erz, den Stahlskulpturen Richard Serras, Homer und Kafka und dem Maultaschenrezept meiner Großmutter, Perry Rhodan und Shakespeare, Thomas Mann und Donald Duck, ja zusammen mit überhaupt allen Büchern, Mikrofiches, CD-Roms, DVD-Roms und vermutlich allen sonstigen bis dahin entwickelten Speichermedien überhaupt untergehen.Ein Gedanke, der wahrlich Schwermut auslösen kann.Andererseits, seien wir ehrlich, ein Gedanke, der mir als Literaturkritiker auch gewissen Trost schenkt: schließlich wird auch die Bücher Paulo Coelhos, Susanne Fröhlichs und Eric Emanuel Schmidts spätestens in sieben Milliarden Jahren dieses Schicksal ereilen.

Das Ende der Debatte um die gute, die gelungene Übersetzung wird in
eins fallen mit dem Ende aller Debatten, seien sie ästhetischer, politischer oder sonstiger Natur, ja in eins mit dem Ende der Natur. Konkret also bedeutet das für die Übersetzer: länger als 7 Milliarden Jahre muß keines Ihrer Produkte halten, denn seit 50 Jahren wissen wir, daß "ewig" in Wahrheit 7 Milliarden Jahre heißt und daß wir für diesen Planeten nur einen Zeitmietvertrag besitzen, von dem ein gutes Drittel schon abgelaufen ist. Die biologische Uhr tickt, und diesmal nicht nur als Metapher.


Damit ist eine klare Frist gesetzt: für die Haltbarkeit von literarischen Übersetzungen, ja für überhaupt alles, was wir so treiben. Dies ist der Trost der Astronomie: sie hält sehr exakte Antworten auf Fragen bereit wie die, was bleibt und wann wir Menschen aller Sorgen ledig sein werden.

Der Trost der Literatur ist anderer Art. Er liegt in meinen Augen unter anderem darin, uns Menschen am Schicksal anderer teilhaben zu lassen, selbst wenn es vor oder nach unserer individuellen Lebensspanne liegt. Wenn jemand wie Barbara Kleiner deshalb entgegen aller ökonomischen Vernunft, jedoch mit penibelstem poetischem Kalkül unserem kontingenten Universum einen Sprachkosmos entgegenstellt, der so reich und bezwingend ist wie in den "Bekenntnissen eines Italieners", dann macht sie sich, in den Worten ihres Erzählers Carlo Altoviti eben zu einem jener Menschen, die durch ihr "Naturell oder durch eigenen Ratschluß sich selbst, den anderen und der ganzen Menschheit gegenüber in allem stets gerecht" sind, zu einem Menschen, der, wieder in den Worten Altovitis, "eine tiefe, ehrenvolle Spur in der Geschichte" hinterlassen wird.

Und so was, meine Damen und Herren, so was bleibt. Barbara Kleiners passionierte Übersetzung rettet Ippolito Nievo auf Deutsch ins 21. Jahrhundert - mindestens. Diese Art passionierter Übersetzung rettet uns alle.

Vielen Dank.