EÜK : Straelen

Straelener Übersetzerpreis 2016 der Kunststiftung NRW

Dr. Alida Bremer

Literaturwissenschaftlerin, Übersetzerin, Autorin

Von Geißfußveredelung und anderen Pfropfverfahren
Zur anthropologischen Kondition der literarischen Übersetzung

Laudatio anlässlich der Verleihung des Straelener Übersetzerpreises der Kunststiftung NRW 2016 an Brigitte Döbert und des Förderpreises an Christine Ammann

 

 

Liebe Brigitte Döbert, liebe Christine Ammann,
sehr verehrte Damen und Herren,

im Vorwort der serbischen Übersetzung von Don Quijote wird die Anekdote erzählt, von der auch Ernst Bloch in Das Prinzip Hoffnung berichtet: „Als ein spanischer König vom Fenster seines Schlosses einen Mann sah, der sich beim Lesen vor Lachen bog, sagte er: Der Mann ist entweder verrückt, oder er liest den Don Quijote.“
Zu den Erinnerungen an meine Studienzeit an der Belgrader Universität gehört auch jene an die Entdeckung des Romans Tutori von Bora Ćosić. Hätte jemand mich damals beim Lesen beobachten können, dann hätte er womöglich auch ausgerufen: Die Frau ist entweder verrückt, oder sie liest den neuen Roman von Bora Ćosić, denn warum sonst würde sie beim Lesen kichern und unkontrolliert lachen? Die hintergründige und bisweilen burleske Komik dieses Buchs ist nun auch den deutschen Lesern zugängig – dank der Übersetzung von Brigitte Döbert.

 

Doch reicht uns das Wort Übersetzung, um das sprachliche Kunstwerk, das in deutscher Sprache unter dem Namen Die Tutoren erschienen ist, zu beschreiben?


Für Theodor, den Urtutor im Meisterwerk vor Bora Ćosić, steht fest: Am Anfang war das Wort, und das Wort sei „jenes, was dem Munde entweicht, so mir scheint, ich müsste mich erbrechen oder echauffieren. Buchstabenstapel zu einem Gegenstande, welchen der eine versteht, der andre nicht“. Goethes Faust lässt uns in der Szene, in der des Pudels Kern erkannt wird, Zeugen seiner Unschlüssigkeit werden, als er nämlich über die Übersetzung des Satzes „Im Anfang war das Wort“ nachdenkt. Er fragt sich, ob im Anfang der Sinn oder die Kraft oder gar die Tat war.  Faust denkt in zwei Kategorien, einer philologischen – logos dürfte zu einem der am schwierigsten zu übersetzenden griechischen Wörtern zählen -, und in einer theologischen.

 

Der knurrende Pudel liegt hinter dem Ofen, während Faust in seinem Studierzimmer um den richtigen Begriff ringt. Übersetzen ist immer auch eine Interpretation. Doch die Anforderungen an die Übersetzer unterscheiden sich stark voneinander. Nicht alle Wörter sind derart vieldeutig wie logos. Nicht alle Werke sind so komplex wie Die Tutoren. Dieses Werk ist zudem von einer weiteren Steigerung gekennzeichnet: Der Übersetzerin, die sich wagemutig der Herausforderung gestellt hat, dieses polyphone, karnevalistische Werk ins Deutsche zu übertragen, war bewusst, dass in diesem Roman die Sprache der Hauptheld ist. Deshalb suche ich nach einer anderen Bezeichnung für ihre besondere Tat. Um es mit Goethe zu sagen: „Ich kann das Wort Übersetzung so hoch unmöglich schätzen, ich muss es anders nennen“. Ein neues Wort finden, um die verspielte Leichtigkeit gebührend zu würdigen. Um die detektivische Entschlüsselung der verrücktesten Einfälle der unablässig sprechenden Tutoren zu bewundern. Um die kreative Kraft zu ehren, mit der Brigitte Döbert Die Tutoren in der deutschen Sprache neu erschaffen hat.


Ich frage mich, was der spanische König gesagt hätte, hätte er Brigitte Döbert beim Übersetzen dieses Buchs beobachten können? Hat sie sich vor Lachen gekugelt, Purzelbäume geschlagen, in einem Meer aus Lexika und Zetteln geschwommen, Heureka gerufen, sich verzweifelt die Haare gerauft?
Da wäre zum Beispiel die Beschreibung eines Bilderrätsels: Das Lösungswort war der Name des mexikanischen Vulkans Popocatépetl. Die Bildchen, die zur Lösung führen, sind in den deutschen Tutoren eine Erfindung der Übersetzerin, denn die Bildchen des Originals getreu zu übersetzen, hätte zu nichts geführt. Mir hat ihr Bilderrätsel besser gefallen als jenes des Originals. Als ich das letzte Kapitel las, in dem eine Amts- und Verordnungssprache verwendet wird, verstand ich, dass dieses Kapitel erst in der Übersetzung seinen ganzen Zauber entfaltet. Welche Sprache eignet sich dafür besser als Verwaltungsdeutsch? „Verordnung über die Kenntnis der Nutzung der Jahreszeiten sowie von zweckdienlichen Nutzungen verschiedener Eigenschaften des Wetters im Allgemeinen.“ „Durchführungsrichtlinie vom Anbrechen der Nacht, mit tabellarischem Verzeichnis der Tag- und Nachtgleichen inklusiver aller Abstufungen“.  Oder wie Brigitte Döbert an anderer Stelle seitenweise reimt und dabei die Szenen aus dem serbischen Bauernleben, in denen Leben und Tod ein eng umschlungenes Paar bilden, so deutsch erklingen lässt, dass einem bewusst wird, dass Bauern und ihre Weisheiten so universell sind wie das Leben und der Tod selbst.

Doch ein besseres Wort als Übersetzung gibt es nicht. Höchstens die Metapher des Pfropfverfahrens, zu der mich die Übersetzerin selbst geführt hat. Im Begleitheft zur deutschen Ausgabe der Tutoren schreibt sie, wie sie zum Wort Geißfußveredelung gekommen ist. Es ist ein Pfropfverfahren; in der Wikipedia heißt es zum Pfropfen ganz poetisch: „Eine veredelte Pflanze ist eine Chimäre, also ein Organismus, der aus genetisch unterschiedlichen Geweben aufgebaut ist und dennoch ein einheitliches Individuum darstellt.“

Sehr ähnlich wie diese Übersetzung.
Michail Bachtin, dessen Studie „Literatur und Karneval“ uns hilft, das Lachen in den Tutoren zu verstehen, hat François Rabelais und Miguel de Cervantes eine herausragende Stellung zugesprochen. Sie waren es, die die Gattung Roman etablierten, an der Grenze zwischen Volkskultur und offizieller Kultur, d. h. an der Grenze zwischen Volkssprache und dem Lateinischen. „Besondere Erwähnung verdient die große Bedeutung der Übersetzung [...]. Das literarisch-sprachliche Bewußtsein fand sich nicht im geordneten System einer einzigen über jeden Zweifel erhabenen Sprache, sondern an der Grenze vieler Sprachen; dort wo sie sich aneinander orienterten [...]“. Da wo Großes in der Literatur entsteht, werden sprachliche Grenzen überwunden. Bei der Übertragung des serbischen Originals hat Brigitte Döbert der deutschen Sprache ungeahnte Möglichkeiten entlockt. Sie hat sie auch zu eigenen vergessenen Schätzen zurückgeführt: Bora Ćosić ist ein Verehrer von Grimmelshausen und seinem Simplicissimus sowie der Neuruppiner Bilderbögen, und auch Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull sind ihm nicht fremd. Brigitte Döbert hat zudem das serbische Original um die verschiedenen Vorzüge der Möglichkeiten der deutschen Sprache bereichert.
Wir Belgrader Literaturstudenten bewunderten Bora Ćosić als einen vom Surrealismus geprägten, politisch subversiven und mit allen avantgardistischen Verfahren ausgestatteten Spaßvogel. Sein opus magnum, das bewusst wie die fünf Bücher Mose aufgebaut ist, war so etwas wie ein postmoderner Schock für uns. Vermutlich stand ich aufgrund meiner frühen Begeisterung für diesen Roman ungewollt Pate für einen Spruch, den das deutsche Feuilleton in den letzten Monaten fleißig wiederholt: den Spruch über die Unübersetzbarkeit dieses Romans, die nun überwunden sei. 1994 übersetzte ich für die Zeitschrift „Schreibheft“ ein viel beachtetes Dossier, das der Autor selbst zusammengestellt hatte, in dem er u.a. sein work in progress erklärte, in dessen Zentrum er seine „Volkschrestomanthie“ Tutori setzte und verkündete, in diesem „Monster-Roman“ sei alles „Niedrige“, „Volkstümliche“ und „Außerkünstlerische“ versammelt, was sich jenseits der „schönen Literatur“ in der Sprache abspiele. Nach dem Erscheinen dieses Dossiers wurde ich immer wieder auf diesen Roman angesprochen. Es sei ein großartiges Buch, erwiderte ich enthusiastisch, etwas zwischen Rabelais, Joyce und Laurence Sterne, in den Schluchten des Balkans angesiedelt und mit kakanischen Verstrickungen versehen, dazu noch eine Dekonstruktion der ideologischen Diskurse inmitten der sozialistischen Realität. Ein Schrecken für  jeden anständigen Verleger! Meine Begeisterung, angereichert durch drastische Beispiele für unübersetzbare Wortspiele, machte die Zuhörer meist ratlos.

 

Ich befürchte, dass die These von der Unübersetzbarkeit von Tutori auf diese Zeit zurückgeht, doch zugleich frage ich mich, ob sie überhaupt widerlegt worden ist? Denn sowohl ich wie auch meine Zuhörer meinten eine Übersetzung als möglichst genaue Wiedergabe des Originals. Wir konnten uns einen ebenbürtigen künstlerischen Geist, der mit dem wortgewaltigen serbischen Schriftsteller seine Kräfte messen würde, einfach nicht vorstellen. Doch Brigitte Döbert gehört zu jenen herausragenden Übersetzerinnen und Übersetzern, die einerseits die Regeln der Übersetzungskunst vollständig beherrschen, aber auch beherzt eine Neuschöpfung wagen. So hat Stanislav Vinaver seinerzeit Rabelais ins Serbische übersetzt. Solche Ausnahmeübersetzer zeichnet künstlerische Freiheit aus. Sie wissen genau, wann sie sich vom Original entfernen müssen, um im Sinne des Originals jene Stellen nachzudichten, die tatsächlich unübersetzbar sind, um danach zur Treue dem Ausgangstext gegenüber zurückzukehren. Und wenn sich an einer unerwarteten Stelle die Möglichkeit ergibt, das Original zu übertreffen, nutzen sie sie, womit jene Stellen, an welchen ein Wortspiel in keinem Fall möglich ist, ausgeglichen werden. Denn Klangassoziationen funktionieren meist nicht, Anspielungen müssen sich an anderen Begriffen orientieren, erfundene Namen müssen ebenso frei erfunden werden – etwa wenn bei einer Aufzählung Firmen wie Plunder-Liquidierung, Europäisches Hauwegkonsortium, Krempl Export GmbH, Herrenberger Nacktarsch oder Boulevard und Pockenschön auftauchen, wobei es sich bei dem letztgenannten Namen um eine Verballhornung des Buchtitels Bouvard und Pécuchet von Gustav Flaubert handelt.


Bora Ćosić hat mit dieser umgestülpten Bibel - Bachtin spricht von „parodia sacra“ -, mit diesem Katalog aller bekannten Begriffe eine Totalität angestrebt. Die Totalität eines Wortbesessenen, dessen Vertrauen in den Sog seiner irrwitzigen Suada genauso groß ist wie sein Vertrauen in die Leser. Denn nur ein Autor, der seine Leser hochschätzt, kann sie diesem doppelbödigen Augenzwinkern aussetzen. Nur ein Autor, der von seinen Lesern das Maximum fordert, kann seitenweise verballhornte Namen von Sparkassen oder Lebensmittelindustriebetrieben aneinanderreihen, sie mit Buch- oder Comictiteln vermengen und daraus die Landkarte einer an der Schnittstelle von Balkan und Mitteleuropa untergegangenen Welt erschaffen.

Übersetzer sind die besten Leser. Der Leseprozess eines Übersetzers, einer Übersetzerin spielt sich in einem höheren Bewusstseinszustand ab. Das Übersetzen ist die höchste Form der Lektüre. Die Übersetzerin ist die „ideale Leserin“, von der Wolfgang Iser sprach - eine erfahrene Leserin, welche imstande ist, die im Text angelegten Signale und Querverweise zu erkennen. Nach Iser ist der  „implizite Leser“ ein Bestandteil des Textes, der ein Angebot darstellt. Nur der „ideale Leser“ erweckt diese potentielle Schicht eines Werks zum Leben. Die Übersetzerinnen und Übersetzer sind dazu prädestiniert, die Vollständigkeit eines Textes zu verwirklichen. Sie wird durch das Prisma einer anderen Sprache erreicht.  Aus derartigen Verflechtungen entsteht Weltliteratur.


*
Es war die Übersetzung von Christine Amman, durch die ich die existentiellen Beziehungen innerhalb einer Flechte und somit die Bedeutung des Wortes Verflechtung in seiner ontologischen Fülle verstanden habe. Haben Sie gewusst, meine Damen und Herren, dass „die friedlichen, scheinbar simplen Flechten […] ein komplexes Innenleben [besitzen]?“ Ich nicht. Ich habe eigentlich bisher noch nie über Flechten nachgedacht. In der botanisch-poetischen Studie des Biologen David G. Haskell Das verborgene Leben des Waldes. Ein Jahr Naturbeobachtung kann man nachlesen, dass wir Menschen „Flechten im Großformat“ seien. „Vereinigung und Verschmelzung“, das Knüpfen „siegreicher Partnerschaften“, die der Autor in einem Stückchen Wald im Südosten von Tennesee, das er als sein Mandala definiert hat, beobachtet, entpuppen sich als eine conditio humana. Ich frage mich, ob sie auch als eine Metapher für das Übersetzen dienen könnten? So etwas wie Pfropfen, aber von der Sonne, von der Luft und vom Geheimnis des Lebens getrieben.
Das Wald-Mandala, in dem sich dem erstaunten Leser nicht nur das ökologische System des Waldes, sondern der Kreislauf der ganzen Natur offenbart, „ist ein Kreis von etwa einem Meter Durchmesser“. Es ist schier unglaublich, was alles auf so einem kleinen Stückchen Erde wächst und gedeiht, sich vermehrt und ernährt, stirbt und verrottet. Pilze, Algen und Bakterien, Farne und Moose, Bäume, Blumen und Büsche, Tiere, Würmer, Insekte und Vögel, alle in vielfältigen Arten vorhanden, tragen wohlklingende Namen.

 

Christine Ammann, die auch aus dem Italienischen und Französischen naturkundliche und naturphilosophische Sachbücher übersetzt, hat mit einer souveränen Eleganz dieses botanische Vokabular mit der literarischen Ebene des Textes verknüpft. Eindrucksvolle Vergleiche, etwa wenn Zecken mit ihrem Suchverhalten an die Ritter der Artusrunde erinnern, da sie „nach demselben suchen: einem blutgefüllten Gral“, paaren sich mit wissenschaftlicher Terminologie. Hinter jeder Erscheinung des Lebens in diesem Waldstückchen weiß der Autor eine Geschichte zu erzählen. Etwa die vom Leberblümchen, von dem früher geglaubt wurde, dass es von Gott als Heilmittel für die Leber in die Welt gesetzt wurde. Oder  von der Präsenz des Menschen in Form eines Golfballs, der zunächst ein Ärgernis für den Naturforscher darstellt, ihn dann aber lehrt, den Menschen als einen „klugen, verspielten afrikanischen Primaten“ zu akzeptieren. Und es bleibt immer noch die Hoffnung, dass die Pilze als „meisterhafte Zersetzer“ eines Tages Plastik zu verspeisen lernen. 


„Selbst das chemische Fundament des Lebens, die DNA, ist ein bunter Regenbogen, ein gordischer Beziehungsknoten“. Derartige gordische Beziehungsknoten scheinen mir auch die beiden heute ausgezeichneten Übersetzungen zu sein.

Liebe Brigitte Döbert, herzlichen Glückwunsch zum Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW 2016, liebe Christine Ammann herzlichen Glückwunsch zum Förderpreis!

Der Straelener Übersetzerpreis wird vergeben von der Kunststiftung NRW in Kooperation mit dem EÜK Straelen