EÜK : Straelen

Klaus Birkenhauer

Mit verstellter Stimme – und im Verborgenen

Dr. Klaus Birkenhauer, geboren 1.11.1934 in Essen, verfaßte diesen Text im Jahr 1978. Wir bedanken uns bei Frau Dr. Renate Birkenhauer für die Erlaubnis, ihn hier abzudrucken.

Klaus Birkenhauer war Mitbegründer des Europäischen Übersetzer-Kollegiums in Straelen und dessen langjähriger Projektleiter bis zu seinem Tod am 4. Februar 2001.

Aus dem Englischen übersetzte er u.a. Erich Fromm, Revolution der Hoffnung; Robert Herndon, Die Schule überleben; Vladimir Nabokov, Verzweiflung und Maschenka; Kurt Vonnegut, Das Nudelwerk und Dann lieber gleich tot.

Ich bin Übersetzer, und ich übersetze gerne. Aber ich kann auch jeden Leser verstehen, der Übersetzungen mißtraut. Das ist durchaus gerechtfertigt, weil dabei immer wieder Fehler und Schludereien vorkommen, die genau dem widersprechen, was eine Übersetzung eigentlich leisten sollte – jemandem, der eine fremde Sprache nicht beherrscht, etwas aus dieser Sprache zu vermitteln.

Aber tun das etwa die folgenden Längen-Angaben? 1609 km im Weltraum, oder 32 km vom Suez-Kanal oder von San Francisco? Nein! Denn das sind blindlings exakte Umrechnungen von Entfernungen, die im englischen Originaltext nur geschätzt waren, nämlich rund 1000 oder rund 20 Meilen.

Ich will ganz schweigen von den nichtexistenten chemischen Elementen Sodium und Potassium, die auf deutsch natürlich Natrium oder Kalium heißen müssten. Aber ich möchte doch noch die Kirche eines bei uns völlig unbekannten Heiligen, des Hl. James (gesprochen: jah-meß) erwähnen, die auf deutsch selbstverständlich eine Jakobs- oder Jacobus-Kirche sein müßte.

Diese kleine Sammlung von Beispielen ließe sich natürlich beliebig erweitern. Denn wir Übersetzer wissen, daß und wie wir sündigen. Und wir wissen auch alle, warum: Weil wir in aller Regel unter Zeitdruck arbeiten, weil wir „normalerweise“ ständig unter dem finanziell bedingten Druck stehen, täglich eine bestimmte Menge Text, einen bestimmten output produzieren zu müssen. Und dabei unterläuft uns immer wieder irgend etwas Schreckliches.

Nicht, daß unsere „normalen“ Leser das merkten. Sie sind gegen jenen merkwürdigen Übersetzungs-Jargon, der sich seit Jahren im Niemandsland zwischen den verschiedenen Sprachen angesiedelt hat, inzwischen ebenso abgestumpft wie die meisten unserer Verleger und Lektoren. Deutsch nicht nur zu können, sondern Deutsch auch zu schreiben, ist offenbar längst keine vorzeigenswürdige Tugend mehr. Wir werden vor allem als Stoff- oder Inhalts-Lieferanten betrachtet, und deshalb wohl verschweigt man uns auch am liebsten. Auf der Titelseite eines Buches erscheint unser Name nur selten, und ganz unterschlagen wird er zumeist in bibliographischen Angaben zu einem Buch oder in Buchbesprechungen.

Wir Übersetzer, die wir ständig aufs Neue unsere Stimme verstellen, um vor allem anderen unseren jeweiligen Autor reden zu lassen, wirken daher sehr im Verborgenen: Die meisten unserer Leser wissen gar nicht, wie oft sie etwas in Übersetzung lesen, also in der Sprachgestalt, die wir ihnen – ohne dabei unseren Autor zu verraten – möglichst „mundgerecht“  gemacht haben. Und im Prinzip ist das auch gut so. Je weniger es beim Lesen auffällt, daß ein Text ursprünglich nicht auf deutsch geschrieben wurde, um so bessere Arbeit haben wir geleistet.

Aber genau dies, nämlich eine gute, d.h. „unauffällige“ Übersetzung zu liefern, bringen wir sehr viel seltener fertig, als es uns (und den sprachempfindlichen unter unseren Lesern) lieb wäre. Das liegt am Markt, auf dem wir uns groteskerweise als „freie Unternehmer“ bewegen, und an unseren übermächtigen „Verhandlungspartnern“ dort, an den Verlegern. Denn wir arbeiten ja immer im Auftrag irgendeines Verlages und müssen von Auftrag zu Auftrag unsere Bezahlung neu aushandeln. Und dabei zeigt sich dann, wie schwach unsere „freie“ Position ist. Unsere Verleger pflegen uns nämlich ungeniert zu erklären: „Mehr kann ich beim besten Willen nicht zahlen, sonst kommt meine ganze Kalkulation durcheinander.“Das ist natürlich Unsinn: falls vor demselben Verleger der Sprecher einer Papierfabrik oder Druckerei säße, wäre es ganz selbstverständlich, daß die Kalkulation eben geändert werden muß (in den ständigen Buchpreiserhöhungen kriegen wir's ja alle zu spüren).

Doch das Buch-Übersetzen ist ein Erwerbszweig, in dem der Käufer die Preise diktiert: Der Verleger entscheidet, was er seinen Übersetzern zahlen will, setzt damit eine Art umgekehrten Darwinismus in Gang – wer es am billigsten macht, darf überleben -, und in gewisser Weise ist das sogar zu begreifen: Wenn die Kosten ständig steigen, liegt es nahe, an der Stelle Einsparungen zu machen, wo man das ohne weitere Folgen tun kann, nämlich bei den weitzerstreuten Zulieferern, den Übersetzer-Heimarbeitern.

Denn Preisunterbieter finden sich in ihren Reihen, so viele man nur will: Hausfrauen oder Hochschullehrer, die sich geistig nicht ausgelastet fühlen und keine reelle Bezahlung verlangen müssen, sondern sich mit einem Taschengeld begnügen können; und dann die vielen, vielen glanzäugig drängelnden Anfänger – Studenten, ehemalige Sekretärinnen, Kaufleute usw. -, die mit ganz wenig Geld zufrieden sind, um nur ins Geschäft zu kommen.Das schaffen sie auch. Aber sie, die Unterbezahlten, müssen nun auch am schnellsten liefern, um einigermaßen über die Runden zu kommen, machen deshalb die meisten Fehler (zum Beispiel alle oben erwähnten) und bringen dadurch genau jenen Erwerbszweig, in dem sie mit Gewalt Fuß fassen wollen, in Verruf – ruinieren sich also im Grunde den eigenen Markt.

Gewiß, Buch-Übersetzen ist eine „saubere“ Heimarbeit, die sogar ein bißchen vom Duft der großen literarischen Welt an sich hat. Die Versuchung, es damit zu probieren, ist also groß. Und wer hätte nicht irgendwann einmal ein bißchen von einer Fremdsprache gelernt? Außerdem, Deutsch können wir schließlich alle!

Doch Fremdsprachenkenntnis allein genügt eben nicht, und Deutsch ist – wie sich immer wieder zeigt – keineswegs etwas, das jeder Deutsche automatisch kann. Sogar eine solide Erfahrung im Schreiben (täglichen Schreiben!) reicht nicht aus, so sehr sie in der Praxis auch hilft.

Denn beim Buch-Übersetzen kommt es vor allem darauf an, durch weit gestreute Lektüre und durch persönliche Kontakte ständig über den Sprach- und Bewußtseinsstand von mindestens zwei Kulturen auf dem laufenden zu sein, wenn man alle Feinheiten und Zwischentöne eines zu übersetzenden Textes begreifen oder doch wenigstens spüren will.

Danach erst beginnt die eigentliche Arbeit, nämlich mit diesen Kenntnissen ( und nicht etwa mit Wörterbüchern) gewappnet vor der Schreibmaschine sitzenzubleiben und sich in kleinen Schritten, hunderte von Seiten lang, übersetzend durch ein Buch hindurchzuwühlen.

Das ist eine durchaus schöpferische oder wenigstens doch nachschöpferische Arbeit, bei der man selbst nach langjähriger Erfahrung nicht gleich auf Knopfdruck eine gute Lösung findet. Und vor allem eine Arbeit, die prinzipiell niemals richtig fertig wird. Denn wir kennen natürlich die im akademischen Elfenbeinturm gestrickten „Beweise“, daß eine vollkommen richtige Übersetzung niemals gelingen kann, weil irgend etwas aus der fremden Sprache in der unseren immer verlorengeht – irgendein Reichtum dort, der bei uns im selben Sinnzusammenhang fehlt. Wir Übersetzer versuchen dann, diesen Reichtum anderswo im Text zu kompensieren: an den Stellen, wo die deutschen Sprachmöglichkeiten es anbieten und zulassen.

Aber da es eine endgültig richtige Übersetzung nicht gibt, weil eine Übersetzung schnell altert und jeder neue Bewußtseins-Zustand eine neue braucht, wissen wir auch, daß an unserer Arbeit immer noch etwas zu verbessern bleibt. Deshalb leiden wir kaum unter Konkurrenzneid, und schon gar nicht unter Autoreneitelkeit – wir versuchen, gemeinsam dazuzulernen und uns gegenseitig auf die Sprünge zu helfen, so gut unsere knappe Freizeit es erlaubt.

Uns werden zwar immer wieder wohlklingende Sonntagsreden gewidmet (unsere Übersetzungen seien „Brücken zwischen den Völkern“ usw.). Aber sobald es dann hart auf hart, nämlich ums Übersetzen selber geht, finden wir uns auf uns selbst zurückverwiesen: Das, was man zum Buchübersetzen können muß, kann man an keinem Dolmetscherinstitut und schon gar nicht an Universitäten lernen, sondern nur in der Vielfalt der täglichen Praxis, der Arbeit am Text unter Zeitdruck, hunderte von Seiten lang.

Wir meinen nämlich, daß Sie, unsere Leser, in jedem Fall die bestmögliche Übersetzung verdient haben. Wenn Sie sie nicht kriegen, immer noch nicht, dann schlagen Sie sie bitte unseren Verlegern um die Ohren.
 

Aus:
Karin Heinz / Regina Peeters (Hrsg.):
Warum ich so oft nach Straelen fahre?: Gedanken, Erinnerungen und Erkenntnisse zum fünfundzwanzigsten Jahr des Europäischen Übersetzer-Kollegiums Nordrhein-Westfalen in Straelen e.V. - Straelen : Europäisches Übersetzer-Kollegium, 2003. - 135 S. : Ill.