EÜK : Straelen

Helmut M. Braem

BERUFSBILD des Übersetzers literarischer und wissenschaftlicher Werke (1966)

 

Helmut M. Braem, geboren 15.12.1922, gestorben am 24.2.1977, war von 1964 bis 1976 Präsident des Übersetzerverbandes VdÜ. Das bis heute gültige „Berufsbild“ verfaßte er 1966.

 

Aufgaben

Der gesamte Umfang der Literatur beschäftigt ihn. Dazu gehören nicht nur die klassischen Formen (Roman, Novelle, Erzählung, Gedicht, Drama), nicht nur das Sachbuch, der Essay, das Märchen, das Libretto, der Liedtext sondern auch die wissenschaftliche Abhandlung, Werke der Geschichte, der Philosophie, Philologie, Soziologie, Psychologie, der Kunst-, Theater- und Filmgeschichte. Manchmal hat er sich auch in jenen Grenzgebieten zu beweisen, wo die Natur- und Geisteswissenschaften zusammenwachsen (Medizin, Biologie, Physik, Chemie, Biochemie, Astronomie).Sein Partner ist selten der Autor, aus dessen Sprache er übersetzt, ist meistens der Verleger, der Theatervertrieb, die Rundfunkdramaturgie (Fernseh- und Hörspiel). Seine Mitarbeit bei Übersetzungsbüros ist außerordentlich gering. Auch ist ihm das Teamwork kaum bekannt. Verträge schließt er daher zu 99 % als Einzelperson ab. Gilt er auf Spezialgebieten als besonders erfahren, wird er oft beauftragt, dem Verlag zu übersetzende Titel vorzuschlagen und Gutachten über fremdsprachige Werke zu verfassen. Damit übernimmt er die zusätzliche Aufgabe eines Lektors, gelegentlich auch die eines Agenten.

Erfordernisse

Abgesehen von sehr fundierten Fremdsprachenkenntnissen, deren Umfang ständig zu erweitern ist, und abgesehen von einer nicht nachlassenden Arbeit an der eigenen Sprache, ist eine weit überdurchschnittliche Allgemeinbildung notwendig. Die abgeschlossene Ausbildung kann niemals mehr als der erste Schritt zu dieser Bildung sein. Denn die an ihn herangetragenen Themen sind so mannigfaltig, daß er sich ebenso in den Mythen persischer Sagen wie in den technischen Bereichen der Futurologen auskennen muß. Er hat zu wissen, wie ein Pferd im 11. Jahrhundert gesattelt wird, Eisenbahnwaggons in den USA gekoppelt, Pflüge in Sizilien geführt werden, Marken und Firmenzeichen pharmazeutischer Unternehmen aus anderen Sprachen abzuleiten sind.Er hat die Terminologie wenigstens einiger Wissenschaften zu kennen, hat zu wissen, daß uns vertraute Lehnworte in anderen Sprachen oft eine ganz andere Bedeutung haben. (All dies können nur wenige Beispiele für viele andere sein.) Sein Wortschatz der Muttersprache müßte theoretisch gesehen so umfangreich sein wie das Grimmsche Wörterbuch. Das gleiche müßte für seinen fremdsprachigen Wortschatz gelten - aber hier kann er sich mit Lexika helfen.
Will er sich für die Literatur und/oder Wissenschaft eines von ihm bevorzugten Landes spezialisieren, muß er auch die Geschichte, die Philosophie, die Wirtschaft, Verwaltung, die Staatsführung des betreffenden Landes genau kennen; das gleiche gilt für die Landschaft, die Menschen, die Dialekte, aber auch die Presse, das Gerichtswesen, die Bräuche, die Tischsitten und die Atmosphäre in Lokalen wie auf Bahnhöfen, auf Straße wie in den Wohnungen verschiedener sozialer Schichten. Kurz, er muß in diesem Lande zu Hause sein.Da das Honorar im Vergleich zu seiner Leistung sehr gering ist, kann er sich das Übersetzen nur als Luxus leisten. Es sind nicht wenige unter den profiliertesten Übersetzern, die nur dadurch gute Arbeiten liefern können, daß sie sich ihren Lebensunterhalt durch einen Zweitberuf verdienen (genauso wie die freiberuflichen Schriftsteller).So unterschiedlich wie das Niveau der zu übersetzenden Literatur ist auch der an ihn gestellte Anspruch. Bei schwierigen Werken der Epik kann es ihm geschehen, daß er drei Seiten nahezu mühelos in die andere Sprache überträgt und dann drei Tage braucht, um ein einziges Wort zu finden. Es kann auch länger als drei Tage dauern. Da die Arbeit meist zwischen 200 und 500 Seiten umfaßt, da er überdies zu einem vereinbarten Termin zu liefern hat, ist er gezwungen, sich die Stunden am Schreibtisch genau einzuteilen und so konzentriert wie möglich zu übersetzen. Vier verbummelte Stunden einzuholen kann zur Höllenqual werden. Deshalb muß es sich der literarische und wissenschaftliche Übersetzer versagen, jemals krank zu werden.

Ausbildung

Ein möglichst weit gefächertes Hochschulstudium ist wichtiger als Promotion oder Habilitation. Wo immer Erfahrungen zu sammeln sind, wo immer Neues aufgenommen werden kann, sollte der künftige Übersetzer dabei sein. Ein paar Reisen ins Ausland nützen ihm wenig. Er sollte in fremdsprachigen Ländern etliche Jahre gelebt haben, als wären sie seine Heimat. Und wenn er in diesen Ländern verschiedene Berufe (und Jobs!) ausgeübt hat, besitzt er für seine Arbeit ein ständig Zinsen bringendes Kapital. Mit den auf der Oberschule oder in privat geführten Dolmetscherschulen erworbenen Kenntnissen ist ihm nicht gedient.Seine Ausbildung ist die eines ewigen Studenten: sie endet erst mit dem Tode. Und wie der ewige Student weiß er als ewig Lernender auch niemals, wie er bei seinem ewigen Studium noch nebenbei Geld verdienen soll. Die Liebe zur Sprache kann ihm überdies niemand beibringen. Und wenn er eine Leidenschaft fürs Übersetzen besitzt und zugleich zum Schreiben, zum Erzählen, dann muß er sich ständig hinter sein eigenes Ich verkriechen, damit er dem fremdsprachigen Autor nicht den eigenen Stil aufdrängt.  

Nachsatz

Weltliteratur ist ohne den Übersetzer undenkbar. Und es müssen immer Menschen da sein, die sie zu ihrer Passion machen. Wer sich darauf einläßt, der hat weder Ruhm noch wirtschaftlichen Gewinn zu erwarten.

Nachsatz zum Nachsatz

Es gibt gute Übersetzer literarischer und wissenschaftlicher Werke. Aber ich kann nur meinem Feinde wünschen, ihre „Aufgaben“ erfüllen zu müssen, ihren „Erfordernissen“ entsprechen zu sollen, ihre „Ausbildung“ bis zum bitter guten Ende durchzustehen.

Aus:
Karin Heinz / Regina Peeters (Hrsg.):
Warum ich so oft nach Straelen fahre?: Gedanken, Erinnerungen und Erkenntnisse zum fünfundzwanzigsten Jahr des Europäischen Übersetzer-Kollegiums Nordrhein-Westfalen in Straelen e.V. - Straelen : Europäisches Übersetzer-Kollegium, 2003. - 135 S. : Ill.